08 Sep „Da steckt so viel Wissen im Algorithmus“
Interview mit Prof. Dr. Henrik Schroeder-Boersch
„Da steckt so viel Wissen im Algorithmus“
Artiqo sprach mit Prof. Dr. Henrik Schroeder-Boersch, Wiesbaden, warum er das mechanische Alignment des Kniegelenks für nicht mehr zeitgemäß hält, er für ein anatomische Rekonstruktion plädiert und welche Rolle das 4-Motion® Kniesystem dabei spielt.
Artiqo: Sie stehen für eine anatomische Rekonstruktion des Knies. Warum?
Schroeder-Boersch: Es ist einfach von der Zeit überholt, nur aufgrund des Wunsches, die Technik zu vereinfachen, eine mechanische Rekonstruktion zu machen, so wie sie die vergangenen vier Jahrzehnte propagiert wurde. Viele Kniesysteme stehen für eine bestimmte Technik, sei es, dass sie rechtwinklig ausrichten oder immer 3 Grad nehmen. Das entspricht aber, wie wir mittlerweile wissen, nicht der Bandbreite der möglichen Anatomien der Patienten. Ich verspreche mir von einer anatomischen Rekonstruktion ein besser funktionierendes Knie durch weniger Irritationen der beteiligten Strukturen.
Artiqo: Was macht die anatomische Rekonstruktion heute einfacher als damals?
Schroeder-Boersch: Der Einbau einer Knieprothese ist nach wie vor komplex. Gleichzeitig wird der Knieersatz in großer Zahl gemacht – auch von Chirurgen in kleineren Zentren mit niedrigeren Fallzahlen und weniger Erfahrung. Wir können das heute einfacher machen, weil uns patientenindividuelle Schnittblöcke zur Verfügung stehen. Damit ist die anatomische Rekonstruktion ein Vorgehen das potenzielle Fehler verhindern kann.
Artiqo: Was muss denn ein Knieprothesensystem mitbringen, das sich konsequent anatomisch nennen darf?
Schroeder-Boersch: Zwei Dinge sind wichtig: Das Implantat muss dafür geeignet sein und ich muss eine OP-Technik haben, die mir eine Individualisierung ermöglicht.
Die Komponenten müssen den individuellen und anatomischen Positionierungen technisch folgen können. Es gibt Implantatsysteme, die grundsätzlich mit drei Grad Neigung eingebaut werden. Wir wissen aber, dass dies bei einem Drittel der Patienten nicht der eigenen anatomischen Achse entspricht. Ein anatomisches System muss ein Implantatdesign haben, das im erlaubten Rahmen von 90° bis 87° in der Frontalebene variabel ist.
Zudem brauche ich ein Instrumentensystem, das es mir erlaubt, bewusst in Neigung zu implantieren. Das hört sich im Zeitalter von Lasern, Mikroprozessoren und Hochleistungsfräsen banal an, aber die Realität am OP-Tisch sieht anders aus. Es wird mit groben Sägen, Hammer und Meißel gearbeitet. Gezielt zwei Grad Neigung einzubauen geht am zuverlässigsten, wenn ich vorproduzierte individuelle Schnittblöcke habe.
Artiqo: Beim 4-Motion® Kniesystem haben wir ja noch den Planungsalgorithmus, der das ganze Vorgehen deutlich vereinfacht…
Schroeder-Boersch: Die um drei Grad geneigte Gelenklinie ist drei Grad schräg, wenn wir uns das Knie in Streckung von vorne angucken. Häufig befindet sich das Knie aber in irgendwelchen Beugestellungen dazwischen. Das heißt: Ich muss das Knie auch in der Beugung anpassen. Das ist der Prozess, der schwierig für den Chirurgen sein kann, wenn er am OP-Tisch steht.
Da hilft eine Planung auf Basis eines vorher festgelegten Algorithmus enorm. Man sollte den Algorithmus schon verstanden haben und auch das Ergebnis der Planung verstehen. Aber in Realität hat man oft wenig Zeit und viel Druck. Da ist es schon sehr wertvoll, wenn man sich auf das Grundprinzip der Planung wirklich verlassen kann. In diesem Algorithmus steckt so viel Wissen und Erfahrung aus der Literatur und so viel mechanisches Verständnis, dass ich den Planungsalgorithmus des 4-Motion® Kniesystems als ausgereifte Planung bezeichne.
Und ich habe die Möglichkeit, nicht nur rein knöchern zu arbeiten, sondern dem Algorithmus auch noch in besonderen Fällen – wenn Bänder besonders kurz und kontrakt sind – Zusatzinformationen zu geben. Das erleichtert mir das Balancieren des Knies, indem ich in der Planung schon knöchern Platz schaffen kann und die Bänder nicht lösen muss. Auch das bedeutet intraoperativ: einfach machen, einfach umsetzen. Deshalb glaube ich, dass das System auch für Chirurgen mit niedrigeren Fallzahlen eine gute Unterstützung ist.
Artiqo: Sie sagten kürzlich, ein personalisiertes anatomisches Alignment könne eine Möglichkeit sein, die Zufriedenheit der Patienten zu erhöhen. Was meinten Sie damit?
Schroeder-Boersch: Der Einbau einer neuen Oberfläche in das Knie bedeutet einen enormen Eingriff für die umliegenden Weichteile. Auf dem OP-Tisch können die Patienten zwar vollständig strecken und 145 Grad beugen, aber nach sechs Wochen oder drei Monaten fehlen manchmal 10 Grad in der Streckung und sie können gerade einmal 100 Grad beugen. Das reicht zum Rad fahren, aber für mehr nicht.
Wenn ein Gelenk vorher auf eine gewisse Neigung eingestellt war, alle Bänder und Kapseln wunderbar mit dieser Neigung funktionieren und ich dann auf althergebrachte Weise ein Standardknie einbaue, dann kann ich damit Irritationen verursachen, weil die Drehachsen nicht perfekt stimmen, die Bänder in Streckung und Beugung unterschiedlich angespannt werden und weil das Knie anders als die alte Oberfläche eingebaut wurde. Da kann es eben sein, dass dieser chronische Reiz zu einer postoperativen Vernarbung führt.
Deshalb der Umkehrschluss: Wenn es mir gelingt, diesen Störfaktor zu verhindern, indem ich das Knie anatomisch einbaue und die Bänder geschmeidig laufen, dann hoffe ich auf weniger postoperative Vernarbungen, weniger warme Knie und weniger Knie, die eine Anpassungszeit brauchen.
Artiqo: Wie sind Ihre Anwender-Erfahrungen mit dem 4-Motion® Kniesystem?
Schroeder-Boersch: Gut. Das kann ich einfach mal so zusammenfassen. Die Planung wird mit den individuellen Schnittblöcken ausgeliefert und hängt bei mir an der OP-Wand. Bevor ich anfange, informiere ich mich über die geplanten knöchernen Schnitte. Ich fühle mich sehr wohl, weil ich schon vor der OP so viel über das Knie weiß. Das finde ich entscheidend. Und wenn ich nur weiß: Es ist ein ziemliches Standardknie. Aber man ist eben auch vorbereitet, wenn es eine schwierige Anatomie ist.
Außerdem sind die Implantate durchdacht. Die Tibia ist für variable Positionen konstruiert, die Passform ist gut und es gibt die Möglichkeit, auch hochwertige PE-Inlays zu verwenden. Da sind viele Punkte.
Wie bei allen neuen Techniken muss man am Anfang ein bisschen Geduld mitbringen und sich daran gewöhnen, z.B. was die genaue Platzierung der Schnittblöcke angeht. Beim 4-Motion® Kniesystem brauchen wir die knöchernen Achsen aus dem CT. Im OP habe ich das Knie häufig noch mit Knorpel vor mir. Die Schnittblöcke müssen aber auf dem blanken Knochen aufliegen. Ich muss jetzt lernen, den Knorpel an der Stelle, wo der Schnittblock aufliegt, gründlich zu entfernen. Das ist die Lernkurve, die man hat. Da gibt es aber immer wieder Kontrollmöglichkeiten im System. Und dafür sind Kurse und Hospitationen wichtig, und die Tipps von Chirurg zu Chirurg.
Artiqo: Einige Hersteller haben patientenindividuelle Instrumente. Kann man sagen, dass die Schnittblöcke beim 4-Motion® Kniesystem erstmals Sinn machen?
Schroeder-Boersch: Genau das. Es steckt hier mehr dahinter, weil es eine anatomische Rekonstruktion in Streckung, in Beugung und in den Positionen dazwischen bedeutet.
Ohne PSI-System kann ich die Gelenklinie ein bisschen schräg setzen, das Femur und die Tibia etwas anders resezieren. Dann müsste ich aber konsequenterweise noch die Femurrotation richtig anpassen. Muss ich mehr rotieren? Oder nicht? Mache ich es den Bändern folgend? Das Ganze bekommt einen Komplexitätsgrad, der im üblichen OP-Ablauf – unter Zeitdruck, Patient blutet, nächste OP steht an, es ist laut – schwierig werden kann.
Hier hilft es, den Denkprozess vor die OP zu verlagern, mit einem Algorithmus, der mir sagt: „Nach allem, was wir über Knieprothetik wissen, ist es am besten, du operierst dieses Knie so.“ Und man kann das natürlich noch anpassen. Dieses Auslagern der Gedankenarbeit macht das PSI beim 4-Motion® Kniesystem so wertvoll. Man operiert nicht mehr Standard, so wie alle Instrumente das ja auch können, sondern man operiert individuell.
Andere PSI-Systeme gehen auf die mechanischen Achsen 90°/90° und die Neigung kommt ins System, indem das Femur lateral ein bisschen kleiner und das Inlay lateral ein bisschen höher ist. Das passt nur für zwei Drittel der Patienten. Da habe ich keine Variabilität.
Artiqo: Die Planung und Erstellung der patientenspezifischen Instrumente dauert ja heute etwa 6-7 Wochen. Wie lässt sich das den Patienten vermitteln, wie ist die Akzeptanz?
Schroeder-Boersch: Die Wartezeit ist technisch bedingt. Wenn es wirklich brennt, ist Artiqo in der Lage, die Wartezeit um zwei Wochen abzukürzen. Die sind da schon sehr hilfsbereit.
Patienten wünschen sich vom Arzt, ernst genommen und individuell behandelt zu werden. Damit meine ich jetzt gar nicht einen individuellen Knieersatz, sondern um die Anerkennung als Mensch mit Besonderheiten. Sie fühlen sich nicht angenommen, wenn ich sagen würde: „Ihr Knie, das ist Standard – das habe ich schon 1.000 Male gemacht. Bei ihnen wird das auch gut.“ Zumindest bei einem differenzierten Publikum, wie ich es in Wiesbaden oft habe, ist das schwierig.
Ich mache die Erfahrung, dass die Patienten es dankbar aufnehmen, wenn ich ihnen erkläre, dass ihr Knie Winkel und Neigungen hat und wir hier die Möglichkeit haben, diese Besonderheiten prothetisch zu berücksichtigen. Dafür brauchen wir präzise Schnittblöcke aus dem 3D-Drucker, die sterilisiert und sicher verpackt werden müssen. Für die, die verstehen, dass es eine individuelle Lösung gibt, ist es ein Argument zu warten.
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